Steigende Kriminalität in Sachsen: Was ein Kriminologe von der Statistik hält

Mehr kriminelle Ausländer, mehr kriminelle Jugendliche: Der Chemnitzer Kriminologe Frank Asbrock warnt davor, die statistischen Zahlen der Polizei falsch zu interpretieren.

Freie Presse: Herr Professor Asbrock, wird die Kriminalität immer schlimmer? Die jüngste Statistik der Polizei legt das zumindest nahe.

Frank Asbrock: Es wird eher besser. Aber ich formuliere das lieber vorsichtiger und sage, die Kriminalität bleibt möglicherweise stabil.

FP: Wie kommen Sie darauf? Letztes Jahr hat die Polizei bundesweit eine ganze Reihe mehr Straftaten aufgenommen. Es waren etwa 300.000 Fälle mehr als 2022, ein Plus von 4,4 Prozent.

Asbrock: Das große Problem ist, dass die Kriminalstatistik so heißt, wie sie heißt. Man glaubt, so ist die Lage. Aber das stimmt nicht, die Statistik bildet die Kriminalität nicht ab. Ob jeder Fall wirklich eine Straftat ist, wie das bei den weiteren Ermittlungen ausgeht, das steht nicht drin. Was im Dunkelfeld passiert, lässt sich daraus auch nicht schlussfolgern. Die Statistik ist kein guter Indikator, um zu sagen, wie sich Kriminalität entwickelt.

FP: Im jüngsten Sachsen-Monitor, einer Umfrage im Auftrag der Staatsregierung, steht, dass die Menschen Angst vor Ausländerkriminalität haben. Liefert die Statistik eine Erklärung, woher die Angst kommt?

Asbrock: Die Zahlen werden populistisch ausgebeutet: Seht her, wir importieren Kriminalität! Diesen Kurzschluss kann man nicht ziehen. Das ist nicht ablesbar. Populisten tun das aber. Emotionen funktionieren besser als Argumente. Ich kann Ängste auslösen mit Emotionen. Wenn man die Zahlen wissenschaftlich einordnet, wird man ganz schnell abgestempelt, man würde lügen und schönreden.

FP: Wie lässt sich das verhindern?

Asbrock: Eigentlich müssten sich Kriminologen und Kriminologinnen, Polizei und Politik vorher zusammensetzen und überlegen, was man aus den Zahlen schließen kann und was nicht. Man muss das alles viel genauer erklären. Wir Kriminologen werden erst im Nachhinein gefragt.

FP: Was sagt die Kriminalitätsstatistik dann überhaupt aus über die Kriminalität?

Asbrock: Sie sagt uns, welche Anzeigen die Polizei aufgenommen hat, wo sie ermittelt, wen sie als Tatverdächtige beschreibt. Es ist ein Arbeitsnachweis der Polizei, was ich überhaupt nicht abfällig meine. Sie könnte sagen: Wir brauchen mehr Personal. Oder auch: Schaut mal, wie gut wir gearbeitet haben. Man erkennt in der Statistik, wohin die Polizei genauer schaut und wo es einfacher ist, Straftäter zu finden. Manche Straftaten sind sichtbarer, manche haben ein extrem großes Dunkelfeld, zum Beispiel Sexualdelikte, Internetkriminalität, Wirtschaftskriminalität, häusliche Gewalt. Wir ziehen häufig die falschen Schlüsse aus der Statistik. Jedes Jahr wiederholt sich das Problem der Interpretation: Dies oder jenes ist schlimmer geworden. Das kann man nicht machen.

FP: Was ist denn ein falscher Schluss?

Asbrock: Nehmen wir die häusliche Gewalt. Vor ein paar Jahren tauchten in der Statistik mehr Fälle auf. Daraus kann ich nicht schlussfolgern, dass die häusliche Gewalt tatsächlich zugenommen hat. Sie war wahrscheinlich vorher schon relativ hoch. Aber weil häufiger darüber berichtet wurde, eventuell durch die Coronapandemie, haben sich möglicherweise mehr Betroffene zur Anzeige entschieden. Das heißt überhaupt nicht, dass sich häusliche Gewalt irgendwie verändert hat.

FP: Bei der Ausländerkriminalität passt die Interpretation ganz gut zu den Zahlen. Vergangenes Jahr besaßen in Sachsen 26 Prozent aller Tatverdächtigen keinen deutschen Pass.

Asbrock: Werden Straftaten von Ausländern vielleicht schneller entdeckt, weil die Polizei sie genauer beobachtet? Asylsuchende leben häufig in Sammelunterkünften. Wenn es dort Auseinandersetzungen gibt, ruft das Personal die Polizei. Man hat automatisch viele Beteiligte an Fällen, die in anderen Bevölkerungsgruppen nicht in dem Maß registriert werden. Das soll nicht heißen, dass das kein Problem ist. Aber das lädt die Statistik auf. Wir können aus den Zahlen nicht ablesen, dass Ausländerkriminalität zugenommen hat. Es ist ein großes Problem, dass selbst etablierte Parteien das trotzdem tun.

„Angst haben vor allem die, die am seltensten Opfer werden“

FP: Aber in den Gefängnissen sitzen verhältnismäßig viele Ausländer.

Asbrock: Ich behaupte nicht, dass Ausländer keine Straftaten begehen. Sie kommen aber möglicherweise schneller ins Gefängnis, weil alternative Strafformen wie Geldstrafen nicht in Erwägung gezogen werden, da sie vielleicht nicht zahlen können.

FP: Die Jugendkriminalität ist gestiegen. Würden Sie das so stehen lassen?

Asbrock: Das kann ein Effekt aus der vorherigen Statistik sein. Die Polizei richtete Sonderkommissionen ein mit starkem Fokus auf Intensivtäter. Wenn genauer hingeschaut wird, wird auch mehr entdeckt. Wir wissen, dass Jugendliche deutlich mehr Straftaten begehen als Erwachsene. Die meisten machen ein, zwei harmlose Dinge, dann hören sie aber wieder auf. Diebstahl oder Schwarzfahren, was auch eine Straftat ist.

FP: Die Sonderkommissionen werden aber doch erst eingerichtet, wenn es Schwierigkeiten gibt.

Asbrock: Ja. Ich will das Problem nicht kleinreden. Aber je stärker sich die Polizei auf einen Bereich konzentriert, desto mehr bekommt sie mit. Umgekehrt bedeutet das nicht unbedingt, dass Jugendliche gewaltbereiter geworden sind. Allgemein hat die Gewaltneigung eher abgenommen, weil wir als Gesellschaft viel behütender mit Kindern umgehen als früher. Lehrer schlagen Schüler nicht mehr. Das haben sie aber früher gemacht, und dementsprechend waren Gewalt und Prügeleien stärker legitimiert.

FP: Sie sagen, die Kriminalität bleibt stabil, geht eher zurück. Wie wirken solche Zahlensammlungen auf das Sicherheitsgefühl?

Asbrock: Das Gefühl passt fast nie zu den Zahlen. Über viele Jahre betrachtet, hat die Kriminalität in den meisten Bereichen abgenommen. Die Leute fürchten sich aber mehr. Sie würden sagen, dass es schlimmer geworden ist. Das nennt man Kriminalitätsparadoxon. Die objektive Entwicklung hängt nicht mit der subjektiven Wahrnehmung zusammen. Angst haben vor allem die, die am seltensten Opfer werden, alte Menschen zum Beispiel.

Warum fast jede Stadt Orte hat, an denen es ständig kracht

FP: Warum fühlen sich die Älteren unsicher?

Asbrock: Sie sind möglicherweise nicht mehr viel unterwegs, sammeln weniger eigene Erfahrungen und informieren sich aus den Nachrichten. Sie nehmen Berichte über Straftaten wahr, orientieren sich daran. Wir haben zum Beispiel Chemnitzer gefragt, wie sicher sie sich in ihrem Wohngebiet fühlen und wie in der Innenstadt. Die Chemnitzer Innenstadt wird als unsicherer Raum wahrgenommen. Diejenigen aber, die in der Innenstadt leben, fühlen sich dort sicherer als alle anderen. Weil sie Erfahrungen machen, wie gefährlich es wirklich ist. Wir sehen das immer wieder: Je weniger Erfahrungen man hat und das Bild durch andere Quellen gespeist wird, desto negativer ist es.

FP: Trotzdem hat fast jede Stadt Orte, an denen es ständig kracht. Nimmt das zu?

Asbrock: Die Häufung an bestimmten Orten ist kein Indikator für Verrohung. Wenn es an einem Ort knallt, fühlen sich andere Leute animiert und hingezogen. Der Ort hat dann einen gewissen Ruf, andere vermeiden ihn. Irgendwann hat man nur noch die dort, die da Stress ausfechten wollen. Das zerstreut sich, sobald die Polizei den Ort im Griff hat. Dann kommt der nächste Ort.

FP: Was kann man dagegen tun?

Asbrock: Plätze beleuchten, attraktiv machen, beleben. Das wirkt. Es zieht anderes Publikum an und die Atmosphäre wird besser. Wenn schon etwas kaputt ist und beschädigt wirkt, ist das viel attraktiver für Kriminalität. Sobald eine Stadt belebt ist, wird sie nicht als gefährlich wahrgenommen.

FP: Warum werden Menschen denn kriminell?

Asbrock: Menschen, die nichts haben, neigen dazu, sich Dinge auf anderen Wegen zu besorgen. Soziale Medien teilen mit, wie das Leben auszusehen hat. Das kann ein Grund sein, kriminell zu werden. Das heißt nicht, dass sozial Schwache automatisch kriminell sind. Bei Jugendlichen geht es häufig um Mutproben. Menschen werden auch aggressiv, weil sie verunsichert sind. Sie wissen sich nicht anders zu helfen. Ein großes Problem ist die Polarisierung in der Gesellschaft. Zwischen den verschiedenen Gruppen entsteht Aggressivität.

Zur Person
Frank Asbrock, 48, hat in Bielefeld promoviert und arbeitet heute als Professor für Sozialpsychologie an der TU Chemnitz und leitet das Zentrum für kriminologische Forschung Sachsen. Asbrock forscht zu Bedrohungswahrnehmung, Intergruppenkonflikten, Gewalt und Ideologien.